Lerntherapie – ein Thema, das oft missverstanden wird mit vielen Mythen. Lerntherapie hilft nicht nur Kindern, sondern auch Jugendlichen und Erwachsenen, die mit Lernschwierigkeiten wie Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Rechenschwäche zu kämpfen haben. Leider kursieren immer noch jede Menge Mythen darüber, die das Bild verzerren.
Was mich dabei am meisten ärgert? Diese Mythen werden immer wieder weitergetragen und sorgen dafür, dass viele Familien nicht die Unterstützung bekommen, die sie wirklich brauchen.
Also, Schluss mit den Missverständnissen! Hier kommen die häufigsten Mythen in der Lerntherapie und die Fakten, die sie richtigstellen.
Mythos 1: Lerntherapie ist nur für Grundschüler
Fakt: Lerntherapie kann in jedem Alter hilfreich sein – auch bei Jugendlichen und Erwachsenen. Es ist nie zu spät, Unterstützung zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Natürlich ist es sinnvoll, früh mit einer lerntherapeutischen Förderung zu beginnen, aber auch als Erwachsener kann eine Lerntherapie noch lohnenswert sein. Neben meiner Arbeit an einer Grundschule und einer Werkrealschule begleite ich auch ältere Schüler an einer Berufsschule. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, Lerntherapie individuell und altersgerecht anzupassen. Mehr über meine Tätigkeit an der Berufsschule erfährst du hier.
Zum Thema Förderung von Erwachsenen gibt es die inspirierende Doku „Buchstäblich leben“, die zeigt, wie Erwachsene von lerntherapeutischer Unterstützung profitieren. Im Lerntherapeuten-Netzwerk berichtete Martina Rubbel von ihren Erfahrungen mit Legasthenie und mit welchen Hürden sie heute im Erwachsenenaltern konfrontiert ist. Heute ist sie Lernbotschafterin für ALFA-Mobil und Lesepatin. Ihr Weg zeigt eindrucksvoll, dass es nie zu spät ist, durch Förderung neue Chancen zu ergreifen.
Mythos 2: Lerntherapie greift erst bei einer Diagnose
Fakt: Für die Kostenübernahme durch das Jugendamt ist eine medizinische Diagnose nach ICD-10 erforderlich. Ohne diese Diagnose Legasthenie oder Dyskalkulie übernimmt das Jugendamt die Kosten nicht. Aber: Eine Lerntherapie kann auch ohne Diagnose sofort beginnen! Lerntherapeuten führen eine Förderdiagnostik durch, um den aktuellen Lernstand des Schülers zu erfassen. Dabei werden Stärken und Schwächen identifiziert und individuelle Fördermaßnahmen entwickelt. So kann die Unterstützung starten, bevor die Lernschwierigkeiten größer werden.
Eine Diagnose ist für die Kostenübernahme wichtig, aber keine Voraussetzung für den Beginn einer Lerntherapie. Dies ist einer der Mythen in der Lerntherapie, der manchmal dafür sorgt, dass keine Lerntherapie in die Wege geleitet wird und wertvolle Zeit verloren geht.
Mythos 3: Eine Lerntherapie dauert viele Jahre
Fakt: Lerntherapie stärkt grundlegende Kompetenzen, gibt Schülern Strategien an die Hand, fördert ihre emotionale Stabilität und bezieht auch das Umfeld – wie Eltern und Lehrkräfte – aktiv mit ein. Dabei steht nicht der schnelle Erfolg, wie eine „1“ in der nächsten Mathearbeit, im Fokus, sondern die nachhaltige Arbeit am Fundament in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen. Oft liegt dieses fernab des aktuellen Schulstoffs. Dennoch zeigen sich bereits nach wenigen Monaten spürbare Fortschritte, besonders auf emotionaler Ebene. Kinder und Eltern fühlen sich entlastet und erleben, wie belastende Situationen besser gemeistert werden können. Welche Faktoren die Dauer einer Lerntherapie beeinflussen, habe ich im Blogbeitrag „Lebenslänglich Lerntherapie“ beschrieben.
Mythos 4: In der Lerntherapie arbeitet man ein Förderprogramm einfach ab
Fakt: Jede Lerntherapie ist so individuell wie das Kind. Es gibt kein „Schema F“ und kein Förderprogramm, das von Anfang bis Ende einfach „abgearbeitet“ wird. Was bei einem Kind wirkt, kann bei einem anderen völlig ungeeignet sein. Deshalb analysieren Lerntherapeuten sorgfältig die Stärken, Schwächen und Bedürfnisse jedes Kindes und wählen gezielt die passenden Materialien und Methoden aus. Dabei spielen auch die emotionalen Bedürfnisse eine zentrale Rolle – denn echtes Lernen gelingt nur in einem positiven und unterstützenden Umfeld.
Mythos 5: Lerntherapeuten können in höheren Klassen keine effektive Prüfungsvorbereitung bieten
Das Missverständnis, dass Lerntherapeuten Schüler in höheren Klassen nicht bis zu den Abschlussprüfungen begleiten können, ist weit verbreitet. Doch gerade Schüler mit LRS oder Rechenschwäche profitieren von der ganzheitlichen Unterstützung, die Lerntherapeuten bieten:
Fachliche Unterstützung
- Vermittlung prüfungsrelevanter Inhalte
- Abbau von Verständnislücken und nachhaltiges Lernen
Nachteilsausgleich
- Beratung und Unterstützung bei der Beantragung im engen Austausch mit Lehrkräften
- Vorbereitung auf die Prüfungssituation mit dem gewährten Nachteilsausgleich
Umgang mit Prüfungsangst /Matheangst
- Förderung von Selbstvertrauen durch Erfolgsstrategien
- Training von Entspannungs- und Stressbewältigungstechniken
Lerntherapeuten berücksichtigen die individuellen Bedürfnisse von Schülern und stärken sie sowohl fachlich als auch emotional für die Herausforderungen der Abschlussprüfungen.
Natürlich ist es wichtig, auf die Qualifikation des jeweiligen Lerntherapeuten zu achten. Während einige sich auf die Arbeit mit Grundschülern spezialisiert haben, begleiten andere Schüler auch in höheren Klassen.
Mythos 6: Lerntherapeuten können jede Art von Lernproblem lösen
Fakt: Lerntherapie bietet viele Ansätze, aber nicht jedes Problem lässt sich allein durch sie lösen. Manchmal sind zusätzliche Fachbereiche wie Ergotherapie, Logopädie oder eine psychologische Unterstützung nötig. Unsere Stärke liegt darin, diese Bedarfe zu erkennen und gemeinsam mit anderen Fachleuten Lösungen zu entwickeln.
Nachdem ich einige allgemeine Missverständnisse zur Lerntherapie beschrieben habe, möchte ich auf zwei Mythen eingehen, die speziell das Thema LRS betreffen. Gerade bei Lernschwierigkeiten wie Lese- und Rechtschreibschwäche sind die Mythen oft besonders hartnäckig und führen zu falschen Erwartungen oder Unsicherheiten.“
Mythos 7: Viel lesen hilft immer – auch bei Rechtschreibproblemen
Fakt: Kinder mit Rechtschreibschwierigkeiten, die ich in der Lerntherapie begleite, bekommen oft den Rat, zu Hause mehr zu lesen. Der Mythos „Wer viel liest, verbessert automatisch seine Rechtschreibung“ ist weit verbreitet. Tatsächlich zeigen Studien, wie die von Siekmann (2011), dass Schreiben eine eigenständige schriftsprachliche Fähigkeit ist, die nicht allein durch Lesen gefördert wird. Da wir kein fotografisches Gedächtnis besitzen und uns die Schreibweise aller Wörter nicht einfach merken können, ist gezieltes Rechtschreibtraining entscheidend. Kinder mit Rechtschreibschwierigkeiten brauchen spezifische Unterstützung, die über reines Lesen hinausgeht, um ihre Fähigkeiten nachhaltig zu verbessern.
Meine Netzwerkkollegin Christiane Kitching hat hierzu ebenfalls einen sehr lesenswerten Beitrag auf Instagram verfasst, den ich euch wärmstens empfehlen möchte (teilen ausdrücklich erlaubt:-)
Mythos 8: Ein Kind mit LRS hat immer Schwierigkeiten beim Lesen und beim Schreiben
Fakt: LRS kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen – entweder im Lesen oder in der Rechtschreibung, oder in beidem. Dabei können die Herausforderungen sehr individuell sein:
- Schwierigkeiten bei der Buchstaben-Laut-Verbindung
- Probleme im orthographischen Bereich
LRS ist also nicht gleich LRS. Diese Unterscheidung ist entscheidend, um gezielt fördern zu können. Die neue ICD-11 berücksichtigt diese Differenzierung und führt die isolierte Lesestörung als eigenständige Diagnose auf.
In meiner schulischen Arbeit bedeutet das oft, dass die Zeit für eine ausführliche individuelle Besprechung der Schüler begrenzt ist. Deshalb habe ich kurze Fragebögen entwickelt, die mir helfen, alle relevanten Informationen vor der Förderung oder während der ersten Förderstunden zu sammeln. So kann ich sicherstellen, dass die Förderung gezielt und effektiv auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmt wird.
Meine persönlichen Gedanken
Lerntherapie ist weit mehr als das Aufarbeiten von Defiziten. Sie bietet individuelle Förderung, emotionale Begleitung und langfristige Unterstützung – unabhängig vom Alter oder der Schwere der Lernschwierigkeiten. Wie man Lerntherapie kindgerecht erklären kann, findest du hier.
Ich wünsche mir, dass Mythen nicht unkritisch übernommen werden, die oft auch auf Social Media entstehen und sich hartnäckig halten. Es ist wichtig, dass Familien die Chancen erkennen, die qualifizierte Lerntherapie bietet – für mehr Selbstbewusstsein, Lernerfolg und Freude am Lernen.
Welche Mythen in der Lerntherapie oder LRS habt ihr schon gehört? Teilt eure Erfahrungen in den Kommentaren – ich bin gespannt!
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