Immer wieder werde ich gefragt, ob sich eine Lerntherapie auch in höheren Klassenstufen noch lohnt, welche Schwerpunkte eine Dyskalkulie-Therapie in höheren Klassen hat und ob es dann überhaupt noch einen Nachteilsausgleich gibt. Pauls Eltern (Name geändert) haben sich für ein Interview bereit erklärt und lassen die letzten Jahre von der Grundschulzeit bis zum Realschulabschluss Revue passieren. Es war eine Zeit voller Höhen und Tiefen, denn bei dem Thema Dyskalkulie sind die meisten Lehrkräfte überfragt.

Mit Dyskalkulie-Therapie erfolgreich zum Realschulabschluss – mit Höhen und Tiefen

Es ist geschafft, der Realschulabschluss von Paul ist in der Tasche! Es gibt Grund zu feiern.

Ursprünglich wollte Paul allerdings am Gymnasium das Abitur machen, aber in Klasse 7 kamen klare Worte vom Mathelehrer, als es um das Thema Dyskalkulie ging:

„Hier kann man leider nichts machen, es läuft auf eine 6 hinaus! Hier bist du falsch.“ Mathelehrer Klasse 6, Gymnasium

Der Schock saß tief, denn Paul kam in Klasse 5 und 6 trotz seiner Dyskalkulie soweit ganz gut in Mathe mit, aber mit dem Wechsel des Mathelehrers in Klasse 7 stand Paul vor einer Sackgasse, Endstation Gymnasium.

Im Interview mit Pauls Eltern erfährst du, wie erkannt wurde, dass die Matheschwierigkeiten von Paul nicht einfach nur Unwissenheit oder Faulheit waren, warum Paul auf die Realschule wechseln musste und wie er mit vielen kleinen und großen Hürden den Realschulabschluss meisterte. Außerdem erfährst du, warum eine Dyskalkulie-Therapie so wertvoll ist.

Wann ist Ihnen aufgefallen, dass es sich um eine Dyskalkulie handelt und wie war die Reaktion der Schule?

Der erste deutliche Hinweis auf die Dyskalkulie unseres Kindes war die VERA 3 in Klasse 3 (Vergleichsarbeit, um den Lernstand von Schülern zu erfassen), bei der das Aufgabenblatt völlig leer abgegeben wurde. Obwohl wir bereits in Klasse 1 und 2 Schwierigkeiten bemerkt hatten, unternahm die Schule nichts. Wir Eltern suchten von uns aus den Kontakt zur Lehrkraft, die jedoch wenig Hintergrundwissen hatte. Die Schule wartete ab, ohne aktiv zu werden. Wir wurden daher selbst aktiv und wandten uns außerschulisch an ein pädagogisches Zentrum, welches den Verdacht der Dyskalkulie bestätigte. Daraufhin folgte eine Lerntherapie, um unser Kind mathematisch zu stärken.

Trotz Empfehlung ans Gymnasium: Lehrer mit Dyskalkulie überfordert

In der vierten Klasse gab es eine klare Empfehlung fürs Gymnasium. Allerdings ist uns jetzt im Nachhinein bewusst geworden, dass unser Kind viel mathematisches Wissen auswendig gelernt hatte. Sein Wissen beruhte auf Fakten, weniger auf Verständnis und die Schule hat dies nicht erkannt.

Die ersten 2 Jahre am Gymnasium liefen relativ gut, in den Hauptfächern stand unser Kind im 2er Bereich. In Mathe waren die Lehrkräfte sehr bemüht, auch um ihn emotional zu stärken. In Klasse 6 gab es auch mal eine 3 in einer Mathearbeit. Der Lehrerwechsel in Klasse 7 hingegen brachte große Schwierigkeiten mit sich. Es gab leider  kein Verständnis für die Lernschwierigkeiten unseres Kindes. Im Gegenteil seitens der Lehrer wurde uns Folgendes nahegelegt: „Leider können wir hier an dieser Schule nichts machen, denn es läuft in Mathe sowieso auf eine 6 hinaus. Aufgrund einer Härtefallentscheidung können wir einmal von der Nicht-Versetzung absehen. Allerdings ist dies nur einmal möglich, bei der nächsten 6 in Mathe können wir an dieser Schule leider nichts für ihr Kind tun.“

Die Lehrkraft gab uns Eltern auch ganz klar zu verstehen, dass man solche mathematischen Fehler noch nie vorher gesehen hätte. Ein bedauerlicher Einzelfall. Wir fühlten uns ganz einfach im Stich gelassen.

Erarbeitung eines Leitfadens für Lehrkräfte zum Thema Dyskalkulie

Schulwechsel auf die Realschule

Entlastung brachte der Wechsel auf die Realschule. Allerdings war dies für unser Kind auch eine emotionale Belastung, weg von den Freunden, weg vom regulären Umfeld und das alles aufgrund von Unwissenheit im Umgang mit einer Dyskalkulie.

Der Schulwechsel brauchte fachlich-inhaltlich eine Entlastung. Es gab weniger Fächer, alles war insgesamt etwas leichter. Allerdings waren andere Aspekte, wie das soziale Miteinander herausfordernd und blieben bis zum Schluss schwierig.

Die Abschlussprüfung steht an – ein langer Weg zum Nachteilsausgleich

Im Abschlussjahr hatten wir weiterhin lerntherapeutische Unterstützung und die Dyskalkulie-Therapie wurde fortgeführt. Neben der Arbeit an den mathematischen Themen war das Jahr ebenfalls geprägt von einem intensiven Austausch mit der Lehrkraft und der Lerntherapeutin, um einen individuellen Nachteilsausgleich in der Abschlussklasse zu erhalten. Rechtlich ist das möglich, aber es war ein langer Prozess, den wir und die Lerntherapeutin mehrfach anstoßen mussten. Es wäre von alleine sonst nichts passiert.

Welche Form des Nachteilsausgleichs geholfen hat:

  • zusätzliche mündliche Aufgaben, die vor der Klasse/einer Kleingruppe präsentiert wurden, um die mündliche Note zu verbessern
  • Anpassung der Gewichtung zwischen mündlich und schriftlich bei der Einreichnote
  • Zeitverlängerung bei Klassenarbeiten und in der Abschlussprüfung

Bei allen Punkten haben wir die Informationen nur in kleinen Etappen bekommen und nie etwas Schriftliches, was uns auf einen Blick zeigt, welche Art der Unterstützung gewährt wird. Es war daher sehr mühsam, zeitraubend und intransparent.

Welches waren die größten Hürden auf schulischer Seite?

Die größten Hürden waren auf schulischer Seite das wenige Hintergrundwissen zum Thema Dyskalkulie und die schlechte Kommunikation und Intransparenz auf allen Ebenen mit schulischen Ansprechpersonen. Wir fühlten uns wie in einem rechtlichen Vakuum. Welche Spielräume und Handlungsmöglichkeiten die Schule hatte, ist oft unklar gewesen. Eine weitere Herausforderung war die Unsicherheit der Lehrkraft und wie sie sich gegenüber der Schulleitung positionieren sollte und würde. Außerdem wurde immer nur reagiert und nicht von sich aus gehandelt.

Welche Art der Unterstützung hat Ihnen in den letzten Jahren am meisten weitergeholfen?

Die Dyskalkulie-Therapie war entscheidend für die Fortschritte unseres Kindes.

Ohne die Lerntherapeutin wären wir verloren gewesen.

Hilfreich war auch die kontinuierliche Unterstützung der Lerntherapeutin beim Thema Nachteilsausgleich. Es war ein langer mühsamer, zeitintensiver Prozess und letztendlich eine Gemeinschaftsleistung von Lerntherapeut, Schule und Eltern.

Die Lehrer an der Realschule waren sehr bemüht, obwohl sie wenig Erfahrung mit Dyskalkulie hatten.

Welche Wünsche und Empfehlungen für den Umgang mit Dyskalkulie haben Sie?

Wir wünschen uns mehr Fortbildungen für Lehrer und konkrete Unterstützung durch die Beratungslehrer. Es ist wichtig, dass das Kultusministerium sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzt, um das Potenzial der betroffenen Schüler nicht zu verschwenden.

Welche Tipps können Sie anderen Eltern geben?

Bleiben Sie dran und kämpfen Sie für Ihr Kind. Suchen Sie sich externe Hilfe und Unterstützung, z.B. in Form einer eine Dyskalkulie-Therapie. Es ist ein langer und oft mühsamer Weg, aber letztlich lohnt es sich, um Ihrem Kind die bestmögliche Chance auf eine erfolgreiche Schulzeit zu bieten.

Dranbleiben, kämpfen, Hilfe holen!

Vielen lieben Dank für das Interview!

Dyskalkulie – oft noch nicht in unserem Schulsystem präsent

Ich habe Paul über 3 Jahre lerntherapeutisch begleitet (ab Klasse 7). Aus meiner Perspektive sind es 4 Dinge, die wichtig wären, um Schüler mit einer Dyskalkulie schulisch besser zu begleiten und sie nicht mehr im Regen stehen zu lassen.

  • Aufklärungsarbeit ist wichtig: Immer noch fehlt es an einem Verständnis f,ür Schüler mit einer Dyskalkulie und ohne dieses Verständnis, besuchen weiterhin Schüler Schulformen die unter ihrem Potenzial liegen
  • Fortbildungen für Lehrkräfte: sind dringend nötig und zwar flächendeckend, denn aus meiner Erfahrung würden Lehrkräfte gerne mehr unterstützen, aber wissen oft nicht wie
  • Nachteilsausgleich: hier braucht es dringend eine Überarbeitung der Verwaltungsvorschrift, aber bis das umgesetzt ist, müssen Lehrkräfte wissen, welche Umsetzungsmöglichkeiten sie bei einer Dyskalkulie haben. Dabei benötigen sie ganz konkrete Praxisbeispiele, damit nicht jede Lehrkraft und jede Schule das Rad neu erfinden muss.
  • Emotionale Stärkung: auch das ist Teil der Lerntherapie und ein enorm wichtiger Teil, denn viele Schüler mit Dyskalkulie haben eine Matheangst und brauchen neben der fachlichen, auch die emotionale Stärkung

Ich freue mich über jeden Schüler, der seinen Weg geht, egal wie mühsam dieser sein mag.

Paul geht nach dem Realschulabschluss weiter zur Schule, und ich bin überzeugt, dass er seine Ziele erreichen und vermutlich auch studieren wird. Der direkte Weg zum Abitur am Gymnasium hat nicht geklappt, nicht weil er das Potenzial nicht hatte, sondern weil die Schule keinen Weg fand, ihn zu unterstützen. Hier muss sich dringend etwas ändern! Pauls Geschichte macht Mut und zeigt, dass man trotz Hindernissen erfolgreich sein kann.

Selbst die größten Herausforderungen im Schulsystem lassen sich mit der richtigen Unterstützung und gezielter Lerntherapie überwinden. Idealerweise mit Lerntherapeuten an Schulen. Susanne Seyfried

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