In diesem Gastbeitrag von Dr. Nicole Fritzler, erfährst du, warum die Stärkung von Eltern (z.B. bei einem Elterncoaching) eine große Rolle spielt, damit Kindern der Zugang zu außerschulischer Förderung ermöglicht wird. Nicole ist Psychologin und LRS-Fachkraft aus Hamm und beschreibt -basierend auf ihrer wissenschaftlichen Forschung- warum es unbedingt notwendig ist, bei der Unterstützung von Schüler/innen mit Legasthenie und Dyskalkulie auch die Eltern gezielt zu fördern.

Du erfährst hier

  • welche Rolle das Einkommen der Eltern spielt (du wirst überrascht sein)
  • warum die Schule so eine große Bedeutung hat und inwiefern multiprofessionelle Teams unterstüzen können
  • welche Inhalte ein Elterncoaching aufweisen sollten, damit das Kind mit einer LRS oder Rechenschwäche eine außerschulische Förderung zeitnah in Anspruch nehmen kann

Schüler/innen mit Teilleistungsstörungen (folgend: TLS) benötigen häufig spezifische Unterstützung, um ihre Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und/oder Rechnen zu überwinden. Die Entscheidung über oftmals kostenpflichtige außerschulische Fördermaßnahmen treffen in erster Linie ihre Eltern. Und obwohl sich die meisten Eltern eine optimale Förderung für ihr Kind wünschen, besucht ein großer Teil der Schüler/innen mit TLS geeignete Förderangebote nicht, selbst wenn die Eltern diese kennen.12

In diesem Artikel zeige ich, welche elterlichen Merkmale die Inanspruchnahme bzw. Nicht-Inanspruchnahme beeinflussen und wie es uns aus Praktiker/innen-Sicht gelingt, das volle familiäre Potential auszuschöpfen, um mehr Schüler/innen mit TLS den Zugang zur Förderung zu erleichtern.

Welche Elternmerkmale sind bedeutsam für die Inanspruchnahme außerschulischer Förderung?

In meinen lerntherapeutischen Tätigkeiten habe ich in vielen Jahren leider viel zu häufig erlebt, dass es immer mal wieder Familien gibt, die sich trotz einer TLS und eines offensichtlichen Leidensdrucks des Kindes gegen eine außerschulische Förderung entscheiden, eine notwendige Förderung nicht antreten, obwohl alle relevanten Aspekte (z.B. bzgl. Finanzierung) bereits geklärt sind oder die Förderung viel zu früh abbrechen.

Warum das so ist und welche Faktoren dies erklären können, konnte ich nicht bei allen Familien auf Anhieb erkennen. Und auch auf wissenschaftlicher Ebene fehlen derzeit systematische Studien, wer nachweislich effektive Formen der Förderung besucht oder nicht besucht. Bekannt ist, dass die Initiierung (z.B. zahlreiche Diagnostik- und Beratungstermine; Antragstellungen zur Finanzierung34) sowie die regelmäßige und langfristige Teilnahme5 häufig mit bürokratischem und ressourcenintensivem Aufwand verbunden sind, was sowohl familiäre als auch persönliche Ressourcen erfordert. Insofern ist es weiterführend – neben der Verfügbarkeit monetärer und zeitlicher Ressourcen sowie der Informiertheit über geeignete Angebote – auch elterliche Persönlichkeitsmerkmale als beeinflussende Faktoren in den Blick zu nehmen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, entsprechende Angebote grundsätzlich in Erwägung zu ziehen und dann auch in Anspruch zu nehmen.

Welche Elternmerkmale haben sich als bedeutsam erwiesen? 

Interessant ist an dieser Stelle, dass das elterliche verfügbare Einkommen sowie die Arbeitsstunden keine und die Höhe des Bildungsniveaus keine eindeutige Rolle bzgl. der Inanspruchnahme außerschulischer Förderung spielten. Diese Befunde sind als äußerst positiv zu bewerten, denn sie machen deutlich, dass mehr Schüler/innen unabhängig vom elterlichen Einkommen ein Zugang zu wichtigen Förderangeboten ermöglicht wird, was einen bedeutsamen Schritt in Richtung Chancengleichheit darstellt!

Alarmierend: Trotz einer angegebenen TLS und offensichtlichen Unterstützungsbedarfs besuchten nur etwa die Hälfte der Schüler/innen ein außerschulisches Förderangebot! 

Inwiefern sind diese Befunde nun für die Praxis bedeutsam?

Betrachten wir mal gemeinsam den in Deutschland leider noch „typischen“ Verlauf, bis das Kind mit einer TLS eine geeignete (nachweislich effektive) Fördermaßnahme besucht6: Schwierigkeiten im Erwerb des Lesens, Schreibens und/oder Rechnens fallen häufig zunächst der jeweiligen Lehrkraft in der Schule auf. Diese sucht das Gespräch mit den Eltern, deutet auf eine mögliche TLS hin und empfiehlt, die Leistungen des Kindes bei einer Fachkraft z.B. der Schulpsychologie überprüfen zu lassen. Die Lehrkraft bietet jedoch in der Regel keine direkte Unterstützung an, um den Eltern den Zugang zu einer außerschulischen Förderung zu ermöglichen.

Mathematische Förderung

Die Eltern stehen nun da – und jetzt?

Genau an dieser Stelle sind bereits Fähigkeiten und Ressourcen vonnöten, wie z.B. die Überzeugung, das Kind aus eigener Kraft unterstützen zu können, Hindernisse zu bewältigen und alles rund um die richtige Unterstützung pflichtbewusst und mit Ausdauer zu organisieren. Jedoch bringen nicht alle Menschen diese Fähigkeiten gleichermaßen mit.

Dies resultiert nicht selten in Unsicherheits- und Angstgefühlen der Eltern, in dem Wunsch nach mehr Beratung und Anleitung78 und letztendlich möglicherweise in der Wahl einer nicht nachweislich wirksamen Unterstützungsmaßnahme (z.B. Nachhilfe9, Akupunktur, Nahrungsergänzungsmittel1011). Hier sollte vor allem die Schule – nicht zuletzt wegen der erleichterten Erreichbarkeit – viel mehr als bislang üblich zum Bildungs- und Unterstützungsort für Familien werden, insbesondere wenn aufgrund von TLS des Kindes erweiterter Handlungsbedarf besteht.

Eltern von Kindern mit TLS sollten bereits hier

  • umfassend über nachweislich effektive und ineffektive Förderangebote aufgeklärt werden (z.B. im Rahmen von Themenabenden, einem Elterntraining oder Elterncafés),
  • über die Angebotsstruktur in ihrer Region (z.B. „Landkarte der Angebote“) und vorhandene Maßnahmen zur Unterstützung (z.B. verfügbare Hilfen bei der Antragsstellung für eine Finanzierung durch das Jugendamt o.Ä.) informiert werden sowie
  • in individuellen (Beratungs-)Gesprächen Maßnahmen zur Ressourcenaktivierung und –stärkung rund um Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Erfolgserwartungen, Aspekte der Gewissenhaftigkeit sowie selbstregulative Fähigkeiten kennenlernen (und ggf. durchführen).

Beispiele für die Förderung elterlicher Ressourcen (z.B. bei einem Elterncoaching)

  • Stärkung elterlicher Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sowie Erfolgserwartungen durch die Vermittlung von Informationen über nachhaltig effektive Förderangebote und durch Aufzeigen, dass Eltern ihrem Kind mit TLS helfen können, allein indem sie es zu einer geeigneten Förderung anmelden und den regelmäßigen Besuch sicherstellen.
  • Daneben gilt zu besprechen, ob Eltern eine Unterstützung benötigen und wünschen, um das Kind zu einer Förderung anzumelden und eine regelmäßige und langfristige Teilnahme zu gewährleisten.
  • Weisen die Eltern Schwierigkeiten in Bereichen wie Zuverlässigkeit, Organisiertheit, Zielbindung oder Ausdauer auf, können ihnen in gemeinsamer Absprache Schlüsselpersonen (z.B. Elternlotsen, o.Ä.) an die Seite gestellt werden, die bei der Kommunikation, Organisation, Einhaltung von Terminen und Ähnlichem behilflich sein können.
  • Zudem können geschulte Lehr-/Fachkräfte ebenso dabei behilflich sein, mittels effektiver Selbstregulationsstrategien auf Schwierigkeiten in der langfristigen Zielverfolgung hinzuarbeiten, die für die Inanspruchnahme und Aneignung eines außerschulischen Förderangebotes notwendig ist.

Insofern sollten von bildungspolitischer Seite strukturelle Ressourcen geschaffen werden, die einerseits den Lehrkräften in der Schule Zeit geben, sich der Zusammenarbeit mit Eltern in der nötigen Intensität zu widmen sowie Lern- und Weiterbildungsprozessen nachzugehen. Erste Projekte an Schulen erproben in Kooperation mit Stiftungen (z.B. Reinhard-Mohn-Stiftung)  bereits, wie z.B. Lehrkräfte und Schulleitungen für die Förderung von Lese-/Rechtschreibkompetenzen qualifiziert und ganzheitliche Förderkonzepte für die Schulen installiert werden können.

Darüber hinaus sollte anerkannt werden, dass all die individuellen Entwicklungsanforderungen, die Schüler/innen in verschiedenen Bereichen mit sich bringen, multiprofessionelle Herangehensweisen erfordern, die von Lehrkräften allein nicht abgedeckt werden können. Sinnvoll wäre eine Schule, in der neben den jetzt schon vertretenen Berufsgruppen auch spezielle Fachkräfte wie Schulpsycholog/innen, Lerntherapeut/innen12 etc. fest vertreten sind, welche die angesprochenen Ideen umsetzen könnten.

Was ist jetzt wichtig: Elterncoaching zur Unterstützung

Aus eigener Praxiserfahrung sowie basierend auf meinen Forschungsbefunden kann ich also sagen, dass das Nachvollziehen von Inanspruchnahmeverhalten im Bereich außerschulische Förderung bei TLS des Kindes einige Perspektiven mehr benötigt als die alleinige Betrachtung sozialstatusbedingter Unterschiede zwischen den Familien, die häufig als die alleinig erklärenden Faktoren betrachtet werden. Meine Dissertation liefert einen wichtigen Beitrag in Richtung Bildungsgerechtigkeit und sollte weitere Forschende und auch im Bildungsbereich Praktizierende dazu inspirieren und motivieren, weiterhin intensiv an dieser Thematik zu arbeiten, um all unseren Kindern gleichberechtigte Teilhabechancen und Bildungserfolge zu eröffnen.

Dr. Nicole Fritzler, Psychologin und LRS-Fachkraft

Um Lehr- und Fachkräfte bezüglich der genannten Implikationen für die Elternarbeit adäquat zu unterstützen, entwickle ich aktuell einen Methodenbaukasten. Dieser beeinhaltet zum einen ökonomische Erhebungsinstrumente zur Abbildung des Unterstützungsbedarfs der Eltern und zum anderen fundierte Methoden zur Unterstützung bei der Durchführung von Elternarbeit und Elterncoaching im Rahmen von TLS. Für mehr Informationen kontaktiere sehr gerne Nicole Fritzler unter folgender E-Mail: nicole.fritzler@fn.de.

 

Vielen lieben Dank Nicole für deinen Beitrag. Er ist im Rahmen des bundesweiten Aktionstages am 30.9.2022 entstanden, zusammen mit weiteren Beiträgen aus unserem Lerntherapeuten Netzwerk. Schaut doch gerne mal vorbei.

Wenn du ein Elterncoaching für Mathe suchst, dann komm in meinen Online Kurs vom Zählen zum Ziel, endlich ein sicheres Mengenverständnis für dein Kind.

Abonniere auch gerne meinen Newsletter und du bekommst Tipps rund um das Thema LRS und Rechenschwäche mehr (für Pädaogogen, Eltern und alle, die Schüler beim Lernen unterstützen möchten)

Ja, ich freue mich drauf

 

Quellen/Fußnoten
1 Kurte (2016)
2 Süßlin (2015)
3 Ricken (2014)
4 Huck&Schmidt (2017)
5 Hilkenmeier, Ricken, Nolte & Ehlers (2020)
6 Natürlich hier etwas überspitzt formuliert, dient der Veranschaulichung.
7 Chien & Lee (2013)
8 Karande, Mehta & Kulkarni (2007)
9 Fritzler & Wild (2019)
10 Schabmann, Szasz & Schmidt (2013)
11 Bull (2009)
12 Bartscher (2021)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert