Wer zahlt überhaupt die Kosten der Lerntherapie? Ist das nicht vom Einkommen abhängig? Ist die Antragsstellung nicht total kompliziert? Der wichtigste Tipp: hole dir Hilfe (was du hier während des Lesens ja bereits machst).
Was muss ich beachten, welche Unterlagen sind nötig? Was mache ich, wenn das Jugendamt mir schon telefonisch mitteilt, dass ich gar keine Chancen auf eine Kostenübernahme habe?
Die gute Nachricht, du bist mit dem Thema nicht alleine. In unserer Facebook Gruppe haben wir diese Woche das Thema intensiv diskutiert und uns gegenseitig Tipps gegeben.
Diese 10 Tipps aus jahrelanger Beratungserfahrung möchte ich daher heute mit dir teilen. (Hinweis: dies sind allgemeine Tipps und ersetzen keine Rechtsberatung).
Wer finanziert überhaupt eine Lerntherapie?
Obwohl die “Lese- und Rechtschreibstörung”, die “Isolierte Rechtschreibstörung” und die “Rechenstörung” in dem der ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) stehen und damit medizinische Diagnosen sind, kommen Krankenkasse für die Kosten einer Lerntherapie nicht auf.
Jugendamt
Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich,, dass das Jugendamt im Rahmen der sogenannten “Eingliederungshilfe” gemäß §35a SGB VIII die Kosten der Lerntherapie übernimmt. Die Lerntherapie wird aber nur bezahlt, wenn eine drohende seelische Behinderung vorliegt. Das klingt erstmal sehr kompliziert, aber lassen Sie sich hier nicht abschrecken.
Bildungspaket (Bildung und Teilhabe)
Auch über das Bildungspaket (Bildung und Teilhabe) können unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten einer Lerntherapie im Rahmen der sogenannten Lernförderung übernommen werden. Um Leistungen zu erhalten, muss der Lehrer einen Förderbedarf feststellen und die Schule muss bestätigen, dass keine vergleichbare Förderung angeboten werden kann. Die Versetzung muss nicht gefährdet sein, wie oft irrtümlicherweise angenommen wird
Privatzahler
Natürlich können Eltern die Lerntherapie auch privat zahlen. Was bei der Auswahl eines Lerntherapeuten zu beachten ist, habe ich hier beschrieben.
Welche Unterlagen brauchst du für den Antrag beim Jugendamt nach §35a?
- schriftlicher Antrag: entweder Vordruck vom Jugendamt oder selbst entworfener schriftlicher Antrag (Darstellung der Situation und Auflistung der psychischen (emotionale Belastung des Schüler) und sozialen (Verhältnis zu Mitschülern, Freunden etc.) Folgeprobleme und deren Auswirkung in den Teilbereichen Schule, Familie, Freizeit/Sozialkontakte
- ärztliches Gutachten mit Diagnostik nach ICD-10 (IQ-Testung und Dyskalkulie oder Legasthenie Testung), mit Hinweis zur Beeinträchtigung der sozialen Integration und Empfehlung einer Lerntherapie
- schulische Stellungnahme: Darstellung der schulischen Leistung und sozialen Situation
- Bestätigung der Schule, dass keine ausreichende innerschulische Förderung gegeben ist
Vermutlich klingt das ganz schön kompliziert. Trotzdem empfehle ich immer einen Antrag zu stellen, denn wenn alle Voraussetzungen vorliegen, kann eine Kostenübernahme bewilligt werden.
Meine Vision ist es, Lerntherapie in Schule zu etablieren. Denn die Antragsstellung kann mühsam und langwierig sein. Viel schöner wäre eine Förderung, die bereits in der Schule stattfindet. 31 gute Gründe für multiprofessionelle Teams an Schulen findest du hier.
Wer stellt die Diagnose?
Eine Diagnostik der Teilleistung kann nur von folgenden Berufsgruppen gestellt werden
- Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
- Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (meistens Psychologen mit Zusatzqualifikation) oder
- Psychologischer Psychotherapeut
Eine Diagnose von einem Institut oder der Schule ist nicht ausreichend.
- das Jugendamt erkennt eine pädagogische Diagnostik nicht an
- Eine Diagnostik einer neutralen Stelle verfolgt keine Eigeninteressen
Daher informiere dich vorab genau beim Jugendamt, welche Unterlagen nötig sind, ansonsten wird dein Kind mehrfach diagnostiziert, was für viele Kinder sehr belastend ist.
Meine Vision: Schüler werden schon in der Schule so individuell begleitet, dass jedes Kind nach seinem Tempo lernen kann
# 1 Stelle den Antrag schriftlich
Lass dich am Telefon nicht abwimmeln, es gibt leider immer wieder Sachbearbeiter, die versuchen die Antragsstellung „abzukürzen“ und erklären dir lange und ausführlich am Telefon, dass genau ihr ja überhaupt keine Chancen hättet. Ein Antrag ist immer schriftlich zu stellen, erst dann liegen alle Fakten auf dem Tisch und das Jugendamt kann fachkundig eine Entscheidung treffen und muss dann auch schriftlich mit einer nachvollziehbaren Begründung den Antrag ablehnen oder auch befürworten.
# 2 Du bist nicht schuld an den Lernschwierigkeiten deines Kindes
Vielleicht wunderst du dich, warum dieser Tipp hier steht. Aber als ich in verschiedenen Facebook Gruppen gefragt hatte, was hat dir bei der Antragsstellung am meisten geholfen, kam doch sehr überraschende Antworten. Manchmal spielt das Jugendamt seine Macht aus und erklärt die Eltern für schuldig an den Lernschwierigkeiten ihres Kindes. Daher ein ganz wichtiger Hinweis: Lass dir bitte nicht einreden, dass du als Mutter oder Vater an der LRS schuld bist.
# 3 Hole dir Hilfe
Daher Tipp Nummer 3 hole dir Hilfe. Die Antragsstellung mag mühsam sein, aber die gute Nachricht: Du bist damit nicht alleine, profitiere von den Erfahrungen anderer Eltern und tausche dich aus
- beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie bzw. den Landesverbänden
- beim Arbeitskreis LRS
- Manchmal hilft auch die AWO vor Ort
- in meiner Facebook Gruppe
# 4 Hat das Jugendamt bestimmte Fristen für die Bearbeitung des Antrags?
Nach §14SGB IX hat das Jugendamt innerhalb von 2 Wochen seine sachliche Zuständigkeit zu klären, also ob die Schule oder die Krankenkasse vorrangig zuständig sind.
Unklar ist, ob die Fristen nach § 14 SGB IX auch für die Dauer des Verfahrens gelten. Jedoch können Eltern spätestens nach 3 Monaten nachdem alle Unterlagen vollständig eingereicht wurden eine Untätigkeitsklage in Erwägung ziehen.
# 5 Wer zahlt die Diagnostik und das Gutachten?
Was viele Eltern nicht wissen: Die Diagnostik und das Gutachten müssen von Eltern nicht privat finanziert werden.
- Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik: zahlt die Krankenkasse.
- Befundbericht: Diese Kosten muss das Jugendamt übernehmen
# 6 Notiere über mehrere Tage hinweg die täglichen Herausforderungen
Oft hat man die Antragsunterlagen vor sich liegen und der Kopf ist völlig leer. Man möchte die schulischen und familiären Probleme einfach vergessen.
Es hilft aber mal über mehrere Tage hinweg, sich aufzuschreiben, was nicht so gut klappt
- wie ist eure Hausaufgabensituation
- in welchen alltäglichen Dingen hat dein Kind Schwierigkeiten (Einkaufen beim Bäcker, Umgang mit Geld, Lesen von kurzen Texten im Alltag)
- Ärger mit Mitschülern (Ausgrenzung aufgrund der Lernschwierigkeiten)
- zieht sich dein Kind zurück oder zeigt es aggressives Verhalten (fühlt sich ungerecht behandelt, es lernt doch so viel und hat trotzdem immer schlechte Noten)
- geht es noch gerne seinen Hobbys nach oder zieht es sich hier auch zurück?
Dies sind nur Anregungen, denn die Schwierigkeiten deines Kindes können ganz individuell sein, genauso wie die Auswirkungen auf den unmittelbaren Alltag.
# 7 Mein Kind ist auf der Förderschule – kann ich trotzdem einen Antrag stellen?
Auch hier können die Kosten der Lerntherapie vom Jugendamt übernommen werden, wenn in der Schule keine individuelle und spezifische Förderung der Teilleistung – also der Dyskalkulie oder Legasthenie stattfindet.
# 8 Was mache ich, wenn es schon Förderunterricht in der Schule gibt?
Zuerst ist die Schule in der Pflicht eine Förderung anzubieten, erst danach ist das Jugendamt verantwortlich.
Daher muss in den meisten Fällen auch die Schule einen Fragebogen fürs Jugendamt ausfüllen.
Es gibt an einigen Schulen LRS Kurse, manchmal auch eine Mathe-Förderung und in einigen Schulen auch Lerntherapeuten. Aber selbst wenn die Schule hier Möglichkeiten der Förderung hat, muss genau hingeschaut werden.
- Ist es eine Förderung in der Gruppe oder im Einzelsetting?
- Wie groß ist die Gruppe?
- Wie lange wird die Förderung angeboten?
- Werden die Schüler differenziert und individuell gefördert oder sind Tempo und Materialien für alle Schüler in der Gruppe gleich?
Eine spezifische Förderung für eine Teilleistungsstörung findet oft nicht statt oder die schulische Förderung ist nicht wirksam (z.B. bei einer Gruppenförderung von 20 Schülern).
Daher mein Tipp an die Eltern: Bitte die Schule genau aufzuschreiben, wie die Förderung aussieht. Wenn beschrieben wird, dass eine LRS Förderung stattfindet, kann es sein, dass das Jugendamt die außerschulische Lerntherapie ablehnt. Dabei wird seitens der Schule manchmal vergessen konkret zu beschreiben, was gefördert wird und wie groß die Gruppen sind. Selbst wenn in der Schule eine Gruppenförderung stattfindet, kann dies für den einzelnen Schüler nicht ausreichend sein.
Weitere Informationen gibt es auf den Seiten des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie, den jeweiligen Landesverbänden oder beim Arbeitskreis LRS (für NRW).
# 9 Nur einer dieser 3 Bereiche muss betroffen sein
Eine Teilleistungsstörung alleine (also eine diagnostizierte Dyskalkulie oder Legasthenie) ist alleine noch keine seelische Behinderung. Das Jugendamt zahlt eine Lerntherapie erst, wenn die psychosoziale Entwicklung und Integration des Kindes/Jugendlichen in einem der 3 Bereiche Schule, Familie oder soziales Umfeld/Freizeit beeinträchtigt ist oder eine Beeinträchtigung droht. Letzteres ist ganz wichtig. Das Kind muss noch nicht so massiv leiden und Lernen komplett verweigern, es ist ausreichend, wenn eine Beeinträchtigung in einem der 3 Bereiche droht.
Wichtig:
- es ist ausreichend, wenn die seelische Behinderung in einem der 3 Bereiche vorliegt (Schule, Familie, soziales Umfeld/Freizeit)
- eine Finanzierung der Lerntherapie kann schon bei einer drohenden Beeinträchtigung übernommen werden (z.B. dein Kind geht noch gerne zur Schule, aber die Hausaufgabensituation eskaliert täglich und das belastet die ganze Familie).
# 10 Die Kostenübernahme vom Jugendamt ist einkommens-un-abhängig
Noch ein letzter, aber wichtiger Tipp. Manche Eltern glauben, dass sie die Kosten der Lerntherapie selbst tragen müssen, da sie „zu viel“ verdienen. Das ist nicht korrekt. Die Finanzierung der Lerntherapie vom Jugendamt ist unabhängig vom Einkommen der Eltern.
Ein letzter Hinweis. Der Ablauf der Antragsstellung beim Jugendamt kann von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein, manchmal sogar von Stadt zu Stadt. Für NRW habe ich hier vom Arbeitskreis LRS eine sehr gute Zusammenfassung gefunden. Viel Erfolg und noch ein Tipp, keiner ist mit dem Thema alleine, es lohnt, sich mit anderen Eltern zu vernetzen.
Noch mehr Tipps? Na, dann her damit:-)
Möchtet du mehr Tipps zum Thema leichter lernen und wie du dein Kind mit einer LRS oder Rechenschwäche gezielt unterstützen kannst?
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Ja, ich freue mich drauf
Quellen: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie
schöne Tipps, ich habe eine Ergänzung: viele Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen bieten ebenfalls eine Teilleistungsdiagnostik an und können die Fachliche Stellungnahme für das Jugendamt ausfüllen!
es gibt zwar nicht viele von uns, dafür aber mehr als Kinder- und Jugendpsychiater
🙂
Danke für den Hinweis. Auf diese Berufsgruppe hatte ich im Blogbeitrag auch hingewiesen, denn aus Erfahrung weiß ich, die Wartelisten sind überall lang und man ist dankbar über jede Ansprechperson.