Viele Eltern und Lehrkräfte gehen davon aus, dass Kinder (z.B. mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche) durch häufiges Lesen automatisch ihre Rechtschreibung verbessern. Dieser Gedanke ist nachvollziehbar: Wer oft mit korrekt geschriebenen Wörtern in Berührung kommt, müsste sie doch irgendwann richtig schreiben lernen – oder etwa nicht?

Mythos: Vielleser sind automatisch fit in der Rechtschreibung

Es existiert der Irrglaube, dass Kinder, die viel lesen, automatisch besser in der Rechtschreibung sind. Studien zeigen jedoch, dass dieser Zusammenhang nicht eindeutig ist.

Lesen eröffnet Welten

Warum verbessert Lesen nicht automatisch die Rechtschreibung?

Beim Lesen liegt der Fokus auf dem Inhalt eines Textes, nicht auf der exakten Schreibweise einzelner Wörter. Lesen stärkt den Wortschatz und das Textverständnis, fördert aber nicht direkt die orthografische Sicherheit. Um die Rechtschreibung nachhaltig zu verbessern, sind gezielte Übungen notwendig.

Was sagt die Forschung?

Empirische Untersuchungen, unter anderem von Prof. Dr. Günther Thomé und Prof. Dr. Katja Siekmann, belegen:

  • Gute Leser sind nicht zwangsläufig gut in der Rechtschreibung
  • Häufiges Lesen führt nicht automatisch zu einer langfristigen Speicherung der Rechtschreibregeln
  • Schreiben ist keine Reproduktion von Gelesenem, sondern eine eigenständige (schrift-)sprachliche Produktion
  • Beim Lesen liegt der Fokus auf semantischen Aspekten, nicht auf der Rechtschreibung
  • Selbst bei bewusstem Lesen können orthographische Besonderheiten nicht zuverlässig gespeichert und reproduziert werden

Fazit: Schreiben ist keine Reproduktion von Gelesenem, sondern eine eigenständige (schrift-)sprachliche Produktion. 

Überlegen wir kurz gemeinsam….

Kannst du mir sagen, wie spät es ist? Informationsaufnahme statt Detailwahrnehmung

Weißt du, wie spät es ist? Wahrscheinlich schauen jetzt alle, die noch eine Armbanduhr tragen, auf ihre Uhr. Aber wenn du jetzt auf deine Uhr schaust (sofern du eine Armbanduhr trägst), kannst du mir sicher die Uhrzeit sagen. Doch wenn ich dich frage, ob dein Ziffernblatt römische Zahlen hat oder welche Farbe der Hintergrund hat, wirst du diese Details vermutlich nicht wissen. Der Blick auf die Uhr dient nur der reinen Informationsentnahme. Ähnlich verhält es sich beim Lesen: Der Fokus liegt auf dem Inhalt, nicht auf der Schreibweise der einzelnen Wörter.

Kennst du noch die Namen aus Harry Potter?

Hast du auch die Bücher von Harry Potter gelesen? Kannst du dich daran erinnern, wie die Häuser geschrieben werden oder wie der Bösewicht heißt? Die weit verbreitete Annahme besagt, dass viel Lesen zur Verinnerlichung der Rechtschreibung führt. Du hast die Bücher sicher oft gelesen, aber trotzdem bist du vielleicht unsicher, wie die Namen und Häuser korrekt geschrieben werden.

Der Ursprung des Mythos: Lesen und Schreiben als untrennbare Einheit?

Die Annahme, dass Lesen automatisch zu besserem Schreiben oder Rechtschreiben führt, ist ein weit verbreiteter Mythos. Historisch wurde das Schreiben lange als „zweitrangige“ Fertigkeit betrachtet, die sich aus dem Lesen ableitet. In den 1980er-Jahren näherte dann das Entwicklungsmodell von Uta Frith den Irrglauben, dass das Erlernen der Fertigkeiten sehr eng miteinander verknüpft ist, obwohl sie nur den Leseprozess erforscht hat und hierfür ein Modell entwickelte. Heute wissen wir, dass Lesen und Schreiben zwar miteinander verbunden sind, jedoch keine direkte Transferwirkung besteht (es gibt Leseentwicklungsmodelle und es gibt Schreibentwicklungsmodelle).

Und warum heißt es dann LRS und nicht LS und RS?

LRS, Lese-Rechtschreib-Schwäche, -Störung, -Schwierigkeit: Die Rolle der Begriffe

Allgemein wird von Legasthenie (v. lat. legere; sprich Leseschwäche) und LRS gesprochen. Oft wird angenommen, dass Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten zwangsläufig zusammen auftreten, deshalb findet sich immer die Abkürzung LRS. Das „S“ in LRS wird je nach fachlicher Ausrichtung unterschiedlich definiert (Lese-Rechtschreib-Schwäche, Störung, Schwierigkeit).
Es existieren für Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben viele verschiedene Begriffe

Verschiedene Studien, darunter die DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International), haben jedoch gezeigt, dass Lese- und Rechtschreibkompetenzen nicht immer gekoppelt sind. Die DESI-Studie, an der etwa 11.000 Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe teilnahmen, stellte fest, dass Leistungen im Lesen und Rechtschreiben unterschiedlich ausgeprägt sein können. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung und Förderung von Lese- und Rechtschreibfähigkeiten.

Neuerdings werden nicht nur die sprachlichen Fertigkeiten in einen „Topf“ geworfen. Lesen löst nun scheinbar auch direkt mathematische Schwierigkeiten.

Warum Lesen nicht automatisch alle Matheprobleme löst

Ein sicheres Mengenverständnis spielt in der Mathematik eine große Rolle

Ein weiterer Mythos, der sich hartnäckig hält: Eine Leseförderung hilft nicht nur bei der Rechtschreibung, sondern auch bei Matheschwierigkeiten. Es wird oft angenommen, dass ein besserer Leser auch automatisch weniger Probleme mit mathematischen Anforderungen hat oder sich sogar die Rechenschwäche komplett auflöst.

Zwar spielen Lesekompetenzen und sprachliche Kompetenzen in Mathematikaufgaben eine Rolle – insbesondere beim Lesen von Sachaufgaben – aber Mathematik hat ihre eigenen spezifischen Anforderungen, die mit einem intensiven Training der Lesefähigkeiten alleine nicht zu lösen sind.

Wenn man sich Entwicklungsmodelle des Rechenerwerbs (z.B. das Entwicklungsmodell der Zahl-Größen-Verknüpfung nach Krajewski 2013) genauer anschaut, dann spielen folgende Basiskompetenzen für den weiteren Erwerb mathematischer Kompetenzen eine große Rolle: das Verständnis für Mengen und Zahlen und deren Beziehungen zueinander, das Operationsverständnis und das verständige Rechnen. Genau hier muss eine Förderung ansetzen.

Lesen lernt man nur durch ein gezieltes Lesetraining und Schreiben lernt man nur durch Schreibübungen

Die richtige Förderung macht den Unterschied

Nur wer die passenden Fördermaßnahmen kennt, kann Schüler gezielt unterstützen- sei es durch schulische Maßnahmen oder durch die Vermittlung geeigneter außerschulischer Hilfe.

Fördermaßnahmen müssen an die Interessen und Bedürfnisse der Schüler angepasst sein. Eine pauschale Empfehlung wie „Lies täglich in einem Buch“ hilft wenig, wenn ein Schüler noch mit den Grundlagen (wie z.B. den Buchstaben-Laut-Verbindungen) kämpft.
Im fortgeschrittenen Erwerbsprozess führt vermehrtes Lesen zu guten Einsichten in Bezug auf Textstrukturen und Wortschatz, aber leider nicht zu orthographischen Einsichten (außer die Aufmerksamkeit fokussiert konkrete Wörter/Wortbausteine oder orthographische Besonderheiten).

Für eine nachhaltige Verbesserung der Rechtschreibung sind gezielte Übungen unerlässlich. Entscheidend sind eine fundierte Förderdiagnostik (z. B. mit der OLFA – Oldenburger Fehleranalyse), eine individuelle Förderung (z.B. eine integrative Lerntherapie), sowie die Arbeit am eigenen Schreib-Wortschatz. 

Fazit: Lesen ist wichtig, aber Schreiben lernt man nur durch Schreibübungen

Lesen fördert Wortschatz und Textverständnis, aber nicht automatisch die Rechtschreibung. Gezielte Übungen und eine Förderung, die den individuellen Bedürfnissen der Schüler entspricht, sind entscheidend, um Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche nachhaltig zu unterstützen.

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Weiterführende Bücher, Materialien, Videos, Anlaufstellen

Mehr Infos über Katja Siekmann und ihre Bücher/Materialien findest du auf ihrer Website und auf ihrem YouTube Kanal. 

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Quellen:

  • Schneider, W., Küspert, P., & Krajewski, K. (2021). Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen (3., aktualisierte und erweiterte Auflage). Brill, Schöningh.
  • Siekmann, K. (2013): Der überschätzte Transfer-Effekt zwischen Lesen und
    (Recht-)Schreiben. In: Hellmich, F. & Siekmann, K. (Hrsg.): Sprechen, Lesen und
    Schreiben lernen- Erfolgreiche Konzepte der Sprachförderung. Berlin: DGLS, S.
    95-109.
  • Siekmann, K. (2015). Der Mythos vom rechtschreibstarken Vielleser. In: Die Grundschulzeitschrift, Heft 290, S. 33-35.
  • Siekmann, K. (2016). Der individuelle Wortschatz. Ein Anker bei der Förderung von Rechtschreibschwierigkeiten. In: Fördermagazin Grundschule 02/16, S. 22-26.
  • Siekmann, K. (2023). Der Mythos vom rechtschreibstarken Vielleser; Video auf YouTube, zuletzt aufgerufen am 30.1.2025 Der Mythos vom rechtschreibstarken Vielleser
  • Thomé, G. (2023). ABC und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS / Legasthenie: Isb Institut für sprachliche Bildung.
  • Wartha, S., & Schulz, A. (2019). Rechenproblemen vorbeugen (6. Auflage). Cornelsen.

 

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