Warum ist das Erlernen der Rechtschreibung eigentlich so mühsam und wie kann eine gute (LRS) Förderung aussehen? Ob mit oder ohne LRS, muss Rechtschreibung immer mühsam sein? Warum wir ein Umdenken an den Schulen benötigen und was das mit dem Igel zu tun hat, erfährst du hier.
Ich habe Prof. Dr. Günther Thomé, ehemaliger Professor für Sprachdidaktik und Sprachwissenschaft des Neuhochdeutschen an den Universitäten Osnabrück und Frankfurt/M. interviewt. Er untersuchte unter anderem im Auftrag der Kultusministerkonferenz in der großen DESI-Studie die Rechtschreibleistung von ca. 9.000 Schülern in Deutschland.
Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Interview mit Günther.
Du bekommst in diesem Blogbeitrag
- Hintergründe, wie sich unsere deutsche Orthographie entwickelt hat
- Warum Anlauttabellen fürs Schreibenlernen nicht immer ideal sind
- Weshalb der Igel nicht die beste Wahl für das I,i ist
- Tipps für Eltern und Lehrer für eine gute Rechtschreibförderung (LRS-Förderung)
Günther, bitte stelle dich einmal vor
Günther: „Mein beruflicher Hintergrund ist sehr langwierig, daher möchte ich vom Ende her anfangen. Ich habe die letzten Jahre – vor meinem Ruhestand – als Professor für Sprachwissenschaft des Neuhochdeutschen und Sprachdidaktik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gearbeitet. Das war meine letzte berufliche Tätigkeit, davor habe ich an diversen Unis gearbeitet. Da will ich gar nicht weiter drauf eingehen, das wird sonst zu lang. Gehen wir doch gerne ins Thema.“
Anmerkung: Recht hat er, das Thema ist zu wichtig, um lange den Werdegang von Günther zu beschreiben, während des Interviews musste ich jedoch laut lachen.
Welche unterschiedlichen Sprachen hast du gelernt, magst du uns kurz einen Einblick geben?
Günther: „Wenn ich damit anfange, mit z.B. Babylonisch, Alt-Babylonisch vor allem, dann wird so manch einer abwinken und sagen: Ich danke.“:-)
Ich berichte kurz von meinen Fremdsprachen, die im Vergleich zu Günther Thomé, fast schon langweilig wirken: Englisch, Französisch, Spanisch, Latein und während des Studiums noch ein Semester Japanisch.
„Japanisch finde ich schon ganz spannend, weil du dann zu einem Thema kommst, was ja momentan leider – muss ich sagen – wieder im Gespräch ist: Silben, Silben, Silben. Ich kann das nicht mehr hören mit den Silben.
Kleiner Exkurs: Japanisch
Die japanische Sprache kann man gut in Silben gliedern, die deutsche Sprache nicht. Japanisch kommt mit 45 Silben aus, an die man noch ein n hängen kann, dann sind es 90. Die deutsche Sprache produziert viele tausend Silben. Außerdem zerschneidet man oft den Wortstamm, wenn man nach Silben gliedert.
Aber kommen wir zur Schrift zurück: Phönizisch ist deshalb interessant, da das, was wir heute für das Deutsche schreiben, aus der phönizischen Schrift kommt. Das ist eine ganz spannende Geschichte, weil viele Leute, die sich mit deutscher Orthographie befassen, Lateinisch können, manche davon haben auch Griechisch gelernt. Phönizisch kennt so gut wie keiner.
Die Entwicklung unserer alphabetischen Schrift muss man sich in drei Schritten vorstellen:
- Phönizisch
- Griechisch
- Lateinisch
Dann sind wir beim Deutschen.
Das Abc, was wir im Deutschen haben – um es mal ein bisschen abzuwerten, ist eine Liste von römischen Buchstaben, die keinen nennenswerten Bezug zur deutschen Sprache haben. Die Kinder lernen damit die schädlichen Buchstabennamen Aa, Be, Ce, De (seit 1872 ist die Buchstabiermethode übrigens in Deutschland verboten) und damit wird das Lesen erschwert. Das Wort Baum wäre dann Be-Aaa-Uu-Em.“
„Ich halte das ABC für richtig schädlich. Wenn man das ABC mit Erstklässlern durchgeht, hat man von Grund her schon ganz viele negative Bausteine gelegt“ Günther Thomé
Es wird die Rechtschreibleistung der Schüler kritisiert, was sind deiner Meinung nach die Ursachen?
Günther: Wir haben im Deutschen 19 Vokale und nicht nur 5 Vokale.
Da kommt das Phönizische wieder ins Spiel. Beim Übergang vom Phönizischen auf das Griechische fanden sich fünf Buchstaben, die man fürs Griechische nicht brauchen konnte. Die hat man dann erst einmal für die Vokale genommen, denn die Phönizier schreiben nämlich gar keine Vokale.
Da liegt schon der Grund darin, warum wir im Deutschen – vor allem bei den Vokalen – Probleme haben. Unsere Schrift kommt also aus einer Schrift, die überhaupt keine Vokale schreibt. Die Griechen und Römer haben jeweils ihr eigenes System entwickelt. Die Römer hatten kein Interesse, die Schrift für das Deutsche herzurichten, denn sie kannten gar kein Deutsch, woher auch, wozu auch.“
Ich fasse zusammen und bemerke, dass sich die deutsche Sprache historisch entwickelt hat. Wir gehen über zum nächsten Thema, obwohl ich ehrlich sagen muss, Sprachgeschichte ist schon total spannend und hilft den Aufbau der deutschen Ortografie besser zu verstehen und gibt auch Anregungen, wie eine gute LRS Förderung aufgebaut sein sollte.
Anlauttabellen, sind doch perfekt um Schreiben zu lernen, oder?
Günther: „Manche Anlauttabellen sind nach dem Abc aufgebaut. Es gibt mittlerweile ein paar Autoren, die bemerkt haben, dass das nicht so günstig ist. Sie versuchen Laute abzubilden, aber viele Laute und entsprechend viele Grapheme (Schriftzeichen) kommen im Anlaut nicht vor. Das letzte Graphem z. B. beim Wort Gang, das ng, lässt sich nicht im Anlaut darstellen. Es gibt im Deutschen kein Wort, das mit ng anfängt.
Viel spannender ist noch die häufigste Schreibung für das lange i, das ie, wie in die, sie, nie oder wieder. Das gibt es seit 400 Jahren nicht mehr im Anlaut. Da ist schon eine ganze Menge in den Anlauttabellen falsch.
„Wer heute noch den Igel bringt, ist auf demselben Niveau wie vor 500 Jahren“ Günther Thomé
Es gibt eine Anlauttabelle aus dem Jahr 1525 von Peter Jordan, mit Bildern dabei. Das Bild für das I ist der Igel. Man könnte eigentlich in den 500 Jahren seitdem ein bisschen weiter sein. Wer heute noch den Igel bringt, ist auf demselben Niveau wie vor 500 Jahren. Das sollte einen nachdenklich stimmen. Die grundlegende weil häufigste Schreibung für das lange i ist das ie, aber das kommt nicht am Wortanfang vor.“
Was könnte man anstelle von Anlauttabellen nehmen?
Günther: „Man könnte ausschließlich mit Wörtern arbeiten, die mit Basisgraphemen geschrieben sind. Was ist ein Basisgraphem? So nenne ich die Grapheme, die die häufigsten sind für die Schreibung eines Phonems. Ein Phonem ist ein Sprachlaut.
Ein Graphem ist eine Schrifteinheit und steht für einen Sprachlaut. Es kann aus einem, zwei oder drei Buchstaben bestehen. Ein SCH/sch ist auch ein Graphem. Genauso wie ein o, wie bei Frosch. Nicht zu verwechseln mit dem o in Hose. Wir können uns keine andere Orthographie aussuchen.“
Wir müssen das Beste draus machen, ergänze ich.
Wie kann man mit Basisgraphemen arbeiten?
Ich möchte es genauer wissen und frage Günther, wie man sich die Arbeit mit den Basisgraphemen vorstellen kann. Was kann man Lehrkräften empfehlen, die das Konzept noch nicht kennen und das auch in die LRS Förderung integrieren möchten.. In den Fibeln wird mit Basisgraphemen ja nicht gearbeitet.
Günther: „Ich habe die Grapheme mal ausgezählt anhand von Texten mit ungefähr 23.000 Wörtern: aus Märchen, aus Fontane und Kafka. Das waren insgesamt Texte mit 100.000 Graphemen. Ich habe es in Phoneme und entsprechend Grapheme umschreiben lassen und von einem Informatiker ein Programm schreiben lassen, um das auszuzählen und zu sortieren. Nach drei Jahren Forschungsarbeit (neben der normalen Arbeit) gab es erste Ergebnisse:
• Mit den Graphemen, die ich definiert habe, kann ich alle Phoneme darstellen: es geht 1:1 auf
• Für jedes Phonem steht ein Graphem und umgekehrt
• Für über zehn Phoneme gibt es nur ein Graphem
Zum Beispiel gibt es nur ein Graphem für das /ɔ/ im Wort Frosch. Wenn ich den Frosch für die Kinder richtig lautiere, dann ist an der Stelle überhaupt keine Frage mehr, wie ich das schreiben soll. Es gibt nur ein einziges Graphem für das Phonem /ɔ/. Das würde vielen Kindern die Orthographie erleichtern. Für das lange o gibt es allerdings drei Möglichkeiten.“ (siehe Grafik).
• Basisgrapheme machen von allen Graphemen über 90 % in deutschen Texten aus.
• Rund 65 % der Wörter werden ausschließlich mit Basisgraphemen geschrieben.
Das folgende Beispiel ist aus dem Übersichtsposter „So schreibe ich richtig“ zur Verfügung gestellt worden.
Warum ist ein Umdenken an Schulen nötig?
Günther, ich höre immer wieder, dass viele Lehrkräfte sagen, mit der Fibel arbeite ich schon seit 20 Jahren, irgendwie klappt es ja und die Schüler lernen die Rechtschreibung. Warum muss ich dann überhaupt als Lehrkraft mich mit neuen Methoden beschäftigen?
Günther Thomé: „Es klappt eigentlich nicht gut, wenn die alten Methoden fehlerhaft sind. Im Auftrag der Kultusministerkonferenz habe ich die Rechtschreibung der Schüler in einer repräsentativen Stichprobe, übers ganze Land verteilt, mit 9.000 Teilnehmern (9. Klasse) untersucht. Wir haben gesehen, dass die Rechtschreibleistung insgesamt zu schwach sind. Es gibt zu viele Schüler und Schülerinnen, die zurückbleiben und je nach Berechnung, wie die Psychologen/Psychiater es machen, kann man diese Schüler Legastheniker/LRSler nennen. Es gibt immer viele Schüler, denen man ein bisschen was vorlegen muss und dann haben sie es fast von selbst damit gelernt, aber andere eben nicht. Wir wollen aber auch erreichen, dass deutlich weniger Schüler durchs Raster fallen. Denn die Eltern müssen sehen, was mache ich mit meinem Kind und investiere ich in eine Lerntherapie, die ich selbst zahlen muss?
„Die Schüler, die im Grunde mit jedem Umgangskonzept zurecht kommen, die werden oft als Rechtfertigung genommen, dass das was man macht, ja gut genug wäre“. Günther Thomé
Das ist den anderen gegenüber nicht fair, die ein bisschen mehr Unterstützung brauchen und die ein bisschen besseres Konzept benötigen. Wir würden damit Eltern entlasten, die vielleicht nicht so viel Geld haben, um die Kinder in eine privat finanzierte Lerntherapie oder LRS-Förderung zu schicken.“
Was muss sich tun, um mehr Schülern bei der Rechtschreibung zu helfen?
Mit Günther ziehe ich persönlich ein Fazit
- Schöner wäre es, wenn der der Bildungsauftrag in der Schule läge und auch die Schüler mit LRS unterstützt und eine LRS Förderung anbietet
- Es wäre wünschenswert, wenn Methoden verwendet werden, die den aktuellen (sprach-)wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen
- Viele Schüler brauchen mehr Struktur bei der Vermittlung der Rechtschreibung brauchen und diese Struktur würde allen Schülern helfen
Es sollte nicht mit Methoden gearbeitet werden, die 500 Jahre alt sind. Viele Methoden finden leider nicht Anwendung in der Schule. Positiv aus meiner Sicht ist es, dass viele Lerntherapeuten mit dem Basiskonzept arbeiten und die OLFA nutzen (Oldenburger Fehleranalyse von Thomé). Dadurch wird den Schülern die Unterstützung (LRS Förderung) gegeben, die sie brauchen. Mit der richtigen Vorgehensweise sieht man endlich kleine Fortschritte und was noch viel wichtiger ist, auf einmal macht Rechtschreibung Spaß.
Herzlichen Dank für das sympathische und sehr informative Interview, Günther. Ich hatte unheimlich viel Freude und freue uns über unseren weiteren Austausch.
Weiterführende Literatur und Buchempfehlungen für die LRS Förderung
Weitere Informationen zu Günther und Dorothea Thomé findest du auf den Seiten ihres Institutes für sprachliche Bildung (Bildungsforschung und Verlag): Material zur LRS Förderung, Bücher, Videos und viele weitere Tipps
- ISB Oldenburg
- Mehr Infos zu OLFA (Oldenburger Fehleranalyse)
- Abc und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS/Legasthenie
- Warum Silben klatschen nicht sinnvoll ist (Link zum Video von Günther Thome, (ganz runter scrollen bis zum zweiten Video „besser lesen lernen“, dort ab Minute 10)
Die Grafiken und Bilder wurden freundlicherweise von Thomé und Thomé zur Verfügung gestellt.
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Ja, ich freue mich drauf
Nicht die Methode ist das grundlegende Problem, sondern einerseits die mangelnde Struktur des Unterrichts und andererseits die Idee, dass das Kind nur motiviert ist zu lernen, wenn es keinem „Druck“ (Schreiben wie es will, wann es will….) ausgesetzt ist.
Ich unterrichte seit ein paar Jahren die Schüler der 2. Klasse in Rechtschreibung, wir schnippen Silben, aber mit 3 unterschiedlichen Bewegungen für Schärfungen und Dehnungen und „Wortstammproblem“ (ohne dass ich je diese Wörter in den Mund nehme). Es ist viel Arbeit, und wir haben keine Legastheniker mehr (ausser wenn die Eltern den Aufwand igrer Kinder sabotieren „weil der Computer ja eh die Rechtschreibung korrigiert“.
Dankeschön fürs Teilen und deinen Einblick.
Liebe Claudia
Soeben habe ich Deinen Kommentar gesehen und finde die Idee, die Silben zu schnippen, sehr interessant. Welche drei verschiedenen Bewegungen verwendest Du? Ich arbeite als Logopädin in Ausbildung (3. Studienjahr) mit einer Schreibfördergruppe, und bin sehr an sinnvollen und zielführenden Methoden interessiert. Falls Du Deine Methode hier teilen magst, bin ich Dir sehr dankbar.
Viele liebe Grüsse
Alexandra