Braucht mein Kind eine Diagnose, um einen Nachteilsausgleich zu bekommen?

Diese Frage beschäftigt viele Eltern, aber auch Lehrkräfte. Die Antwort ist nicht immer einfach, denn die Vorgaben unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland.

Oft hört man die Aussage: „Um einen Nachteilsausgleich beantragen zu können, muss eine Legasthenie oder Dyskalkulie nachgewiesen werden.“ Doch das ist so nicht richtig! In vielen Bundesländern ist eine formelle medizinische Diagnose gar nicht erforderlich, um einen Nachteilsausgleich zu gewähren.

Was bedeutet „Diagnose“ überhaupt?

💡 Wichtig zu wissen:
Legasthenie und Dyskalkulie sind medizinische Diagnosen, die unter anderem von Kinder- und Jugendpsychiatern (KJP) oder spezialisierten Fachstellen gestellt werden. Wenn ich in diesem Beitrag von einer Diagnose spreche, meine ich immer diese medizinische Diagnose – nicht eine schulische Förderfeststellung oder eine pädagogische Einschätzung.

Ob eine medizinische Diagnose als Voraussetzung für einen Nachteilsausgleich gilt, hängt vom jeweiligen Bundesland ab. In vielen Fällen reicht eine schulische Einschätzung, um einen Nachteilsausgleich zu gewähren.

Diagnose erforderlich – oder reicht eine schulische Einschätzung?

In den schulrechtlichen Regelungen vieler Bundesländer ist festgelegt, dass ein Nachteilsausgleich auch ohne medizinische Diagnose möglich ist, wenn Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen vorliegen. Es wird bewusst von „Schwierigkeiten“ gesprochen und nicht von einer Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Störung) oder Dyskalkulie (Rechenstörung).

In diesen Bundesländern (Aufzählung nicht vollständig, nur beispielhaft) reicht eine schulische Einschätzung aus:

Für Baden-Württemberg findest du hier noch weitere Informationen rund um das Thema Nachteilsausgleich.

Warum die Diagnose-Debatte problematisch sein kann

Die Forderung nach einer formellen (medizinischen) Diagnose kann in vielen Fällen mehr schaden als nützen – sowohl für betroffene Kinder als auch für deren Familien und Lehrkräfte.

Verzögerte Hilfe: Monatelange Wartezeiten auf eine Diagnose lassen Kinder ohne Unterstützung zurück, obwohl bereits klar ist, dass sie Schwierigkeiten haben. In dieser Zeit verschärfen sich oft ihre Lernprobleme und ihr Selbstvertrauen leidet.

Stigmatisierung: Eine Diagnose kann dazu führen, dass Kinder in eine Schublade gesteckt werden, anstatt eine individuelle Förderung zu erhalten. Das Umfeld sieht sie dann möglicherweise nur noch durch die Brille ihrer „Störung“ – statt ihre Stärken zu erkennen.

Knapp daneben – und ohne Hilfe? Wer die diagnostischen Kriterien nur knapp verfehlt, bekommt oft keinen Nachteilsausgleich, obwohl der Unterstützungsbedarf offensichtlich ist. Lernstörungen sind kein „Entweder-Oder“, sondern ein Kontinuum – jedes Kind braucht eine individuell angepasste Unterstützung.

Schulen ziehen sich aus der Verantwortung: Oft wird die Notwendigkeit einer medizinischen Diagnose als Vorwand genutzt, um keinen Handlungsbedarf zu sehen (der oft aber auch aufgrund fehlender Ressourcen entstehen kann). Lehrkräfte fühlen sich nicht zuständig und verweisen auf die Eltern: „Kommen Sie wieder, wenn Sie eine offizielle Diagnose haben.“ So wird wertvolle Zeit verschenkt, anstatt pragmatische Lösungen im Schulalltag zu finden.

Zwischen Förderung und Schubladendenken – Kinder brauchen individuelle Hilfe

Praxisbeispiel: Baden-Württemberg, individuell, wirksam und im pädagogischen Ermessen

Als Frieda in die 2. Klasse geht, klappt in Mathe auf einmal gar nicht mehr. Aus der 39 wird die 93 und Frieda rechnet jede Aufgaben komplett neu und versucht alles mit den Fingern zu lösen, was unheimlich viel Zeit kostet. Mathe macht so einfach keinen Spaß mehr und die Zahlen ergeben für Frieda überhaupt keinen Sinn.

Die erste Klassenarbeit geht völlig daneben und auch die Hauaufgaben dauern ewig. Der Lernfrust ist riesengroß. Die Lehrerin ist der Meinung, dass Frieda besser die Klasse wiederholen solle, sie komme ja jetzt schon nicht mehr mit, 6 Wochen nach Schulbeginn. Nachteilsausgleich? Fehlanzeige! Sowas gäbe es doch gar nicht und wenn dann nur mit einer Diagnose und für Mathe gäbe es das sowieso nicht.

wenn die Hilfe auf sich warten lässt

2 Wochen später ist die Lehrerin schwanger und Frieda bekommt eine neue Mathelehrerin. Diese erkennt sofort die Schwierigkeiten und beruft eine Klassenkonferenz ein. Dort wird beschlossen, dass Frieda mehr Zeit und Hilfsmittel bekommt, um die Aufgaben zu visualisieren, denn mit dem Dienes Material kann sie 50-30 viel einfacher lösen. Außerdem wird ein Förderplan erstellt und mit den Eltern ein längeres Gespräch geführt, um nach Lösungen zu suchen, wie Frieda auch emotional gestärkt werden kann.

In BW gibt es außerdem laut Verwaltungsvorschrift eine Härtefallklausel, demnach „bei schwer betroffenen Schülern ein Ermessensspielraum besteht, der zur Milderung möglicher Härten eine Abweichung vom Anforderungsprofil zulässt und damit auch eine Anpassung an die individuellen Leistungsmöglichkeiten möglich macht. Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie Baden-Württemberg e.V. 

Zwei Lehrkräfte, zwei unterschiedliche Herangehensweisen. Für Frieda war das ein  Glück, dass die erste Lehrkraft schwanger wurde. Die Herangehensweise der neuen Lehrkraft ermöglichte eine schnelle und individuelle Unterstützung und die Stärkung des Selbstwertes von Frieda.

Wie Schulen bei Lernschwierigkeiten handeln können

Um Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen gezielt zu unterstützen, sind folgende Maßnahmen hilfreich:

  • Lehrkräfte sensibilisieren: Schulen können gezielt geschult werden, um Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten und auch Rechenschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen
  • Individuelle Förderpläne: Lehrkräfte können Maßnahmen in die Wege leiten, die dem Schüler sofort helfen
  • Schulinterne Tests/Beobachtungen nutzen: Viele Bundesländer erlauben (bzw. sehen auch die Lehrkräfte in der Verantwortung) anhand interner Beobachtungen, Lernstandserhebungen einen Nachteilsausgleich zu gewähren

Wenn die Schule eine Diagnose fordert, was Eltern tun können

Falls eine Schule auf einer Diagnose besteht, können Eltern folgende Schritte unternehmen

  • Gesetzliche Grundlagen kennen: Eltern sollten gut informiert sein! In vielen Bundesländern gibt es klare Vorgaben, dass eine Diagnose nicht zwingend notwendig ist (hier findest du von unserem Lerntherapeuten-Netzwerk die schulrechtlichen Regelungen zum Nachteilsausgleich von einigen Bundesländern – wird regelmäßig erweitert)
  • Das Gespräch suchen: Gehe mit der Lehrkraft bzw. den schulischen Ansprechpersonen ins Gespräch, oft lassen sich so individuelle Lösungen finden
  • Unterstützung suchen: Vernetze dich mit anderen Eltern oder Elternvertretungen, suche dir vor Ort Unterstützung bei Eltern-Cafés, dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie oder dem Arbeitskreis LRS (für NRW) oder kontaktiere einen integrativen Lerntherapeuten (hier findest du alle Infos zu meinen SOS Gesprächen)

Weniger Bürokratie, mehr individuelle Förderung

Ein Nachteilsausgleich sollte nicht an einer medizinischen Diagnose hängen (auch wenn das einige wenige Bundesländer verlangen). Vielmehr geht es darum, jedem Kind die bestmögliche Unterstützung zu bieten – unabhängig von einer formellen Diagnose und das möglichst zeitnah. Schulen und Eltern sollten gemeinsam daran arbeiten, pragmatische Lösungen zu finden, statt sich im Paragraphendschungel zu verlieren.

💡 Mehr Informationen & exklusive Tipps: Das Lerntherapeuten-Netzwerk hat eine umfassende Übersicht der Nachteilsausgleiche in verschiedenen Bundesländern erstellt, die wir regelmäßig erweitern.

hier geht’s zur Übersicht

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