Wie kann man als Lerntherapeutin mit Emotionen umgehen, ist ein Thema, was mich in Beratungsgesprächen immer wieder beschäftigt.
Dieser Blogbeitrag entsteht im Rahmen der Blogparade von Julia Georgi. Julia hat aufgerufen, den emotionalsten Moment als Coach bzw. Therapeut zu verbloggen.
Ich musste eigentlich nicht lange überlegen, da gibt es Momente, die mich gerührt haben, die mich wütend gemacht haben und welche, die mir aufgezeigt haben, wie wunderbare meine Tätigkeit als Lerntherapeutin ist. Ich hatte schon viele emotionale Momente, einige haben mich länger begleitet, bei anderen fiel es mir leichter, den nötigen Abstand zu wahren. Es ist auch nicht immer leicht, den idealen Weg zu finden, wie man in Beratungsgesprächen mit Emotionen umgehen kann.
Wo Menschen zusammen kommen, sind immer Emotionen im Spiel, manchmal kann man gemeinsam lachen, manchmal fließen Tränen. Mir ist es wichtig, nicht nur die mir anvertrauten Schüler zu begleiten und zu fördern, sondern ebenfalls das Umfeld, die Eltern, die Großeltern, die Schule und ggf. andere Beteiligte. Denn Lerntherapie ist immer ganzheitlich.
Wenn mich mitten im Urlaub eine Anfrage erreicht
Einen meiner emotionalsten Momente hatte ich während eines Pfingsturlaubs an der Ostsee. Es war im Juni 2020, Reisen war teilweise wieder möglich (Lockdown und Corona waren für viele Familien enorm belastend). Meine Wochen zuvor waren auch sehr emotional (mein Vater war kurz vorher gestorben) und wir brauchten als Familie einfach eine kleine Auszeit und verbrachten diese an der Ostsee. Mit der Ostsee und Lübeck verbinde ich ein Stück Heimat, ein Stück Kindheit, denn da wohnten meine Oma, mein Großonkel und meine Großtante und ich verbrachte viele wunderschöne Wochen an der Ostsee in meiner Kindheit.
Am zweiten Tag unseres Urlaubs erreichte mich folgende E-Mail:
Liebe Frau Seyfried. Wir wissen nicht mehr weiter. Unser Sohn (6. Klasse) hat so große Schwierigkeiten beim Lesen. Er ist total frustriert. Die Lehrerin glaubt, dass die Hauptschule die bessere Schulform sei, in Mathe hat er allerdings eine 1. und auch die anderen Fächer 2er und 3er. Nach den Ferien möchte er nicht mehr zur Schule gehen. Wir sind total hilflos.
Diese Worte haben mich sehr berührt und so entschied ich, der Mutter einen kurzen Beratungstermin telefonisch anzubieten. Wir einigten uns auf folgenden Tag früh morgens um kurz nach 8 Uhr. Ich wusste, da schlafen meine Töchter normalerweise noch und es würde am wenigsten unsere Familienzeit stören (die mir wichtig war – ich konnte und wollte aber die verzweifelte Mutter auch nicht hängenlassen) und da ich morgens gerne arbeite, wenn alle schlafen, war das für mich perfekt.
Auf einmal wurde es am Telefon ganz still
Die Mutter rief mich an und sprudelte los, schon beim zweiten Satz merkte ich, wie sie völlig aufgelöst war und sich immer wieder die Frage stellt, ob sie irgendwas falsch gemacht hätte. Es könne ja nicht sein, dass ihr Sohn in Klasse 6 immer noch so große Schwierigkeiten beim Lesen von kurzen Texten hätte.
Hätte sie mehr üben sollen, strenger sein sollen oder mehr vorlesen sollen, als er noch klein war? Vielleicht hätte sie auch mehr mit den Lehrern sprechen sollen? Auf einmal war Stille und ich merkte, wie die Mutter weinte. Pause, es war nichts mehr zu hören.
Ich war für einen Moment nicht sicher, ob sie noch da war oder schon aufgelegt hatte, aber irgendwann hörte ich „Entschuldigung“ und nochmal Entschuldigung. Das hätte mir nicht passieren dürfen, schluchzte die Mutter. Sie war völlig überwältigt von ihren Emotionen und wusste nicht, wie sie damit umgehen soll. Als ich sie beruhigte und ihr sagte, dass sie sich die Zeit nehmen soll, die sie braucht, legte sie nicht auf, sondern sagte nur: einen Moment bitte. Weitere 5 Minuten später, flüsterte sie leise, sind Sie noch da? Ja, das war ich und sie war so dankbar, dass ich ihr die Zeit gegeben hatte, dass ich nicht angeboten hatte, ein anderes Mal anzurufen, denn dafür hätte sie nicht mehr den Mut gehabt. So wusste sie, sie war nicht alleine mit ihren Sorgen, ich war immer noch am Telefon und für sie da.
Das Telefonat ging danach noch weitere 20 Minuten, in denen ich ihr einfach erstmal zuhörte und wir dann gemeinsam nach Lösungen suchten, wie wir ihrem Sohn helfen können. Wichtig war es, dass sie jetzt in den Ferien als Familie mal abschalten musste. Kein Lesen üben, keine Schuldzuweisung, einfach Ferien.
Bin ich nicht am wundervollsten Ort der Welt?
Als das Telefonat zu Ende war, blickte ich aus dem Fenster, genoss den Blick auf die Trave und war einfach nur dankbar, dankbar, vor einigen Jahren meinen Job als Abteilungsleiterin in der Logistik aufgegeben zu haben und mich entschieden zu haben, Lerntherapeutin zu werden. Ich war dankbar, an diesem wunderbaren Ort zu sein, diesen Blick aufs Meer zu genießen, mit den Möwen im Hintergrund.
Meine Töchter wurden kurz darauf wach und deckten den Frühstückstisch.
Am Abend kam folgende E-Mail:
DANKE Frau Seyfried, jetzt kann ich endlich zur Ruhe kommen und nach vorne schauen.
Nach den Ferien entstand eine ganz wunderbare Zusammenarbeit und Förderung von ihrem Sohn, der nach und nach entdeckte, dass Lesen zwar immer noch mühsam war, er aber mit den richtigen Übungen Fortschritte machen konnte. Er entdeckte außerdem, dass er viele wunderbare Stärken hat und erkannte, dass er mit seiner Leseschwäche nicht alleine war.
Manchmal hilft einfach nur Zuhören
Es braucht manchmal nicht viel, ich hörte einfach nur zu und gab der Mutter, die Zeit, die sie benötigte, um sich zu öffnen und ihre Sorgen zu schildern. Was wichtig war:
- Intensives Zuhören
- Die richtigen Worte finden
- Die Schuldfrage beiseiteschieben
- Aufklären und Ideen für die weitere Vorgehensweise besprechen
- Emotionen zulassen und mit Emotionen umgehen
Als ich wieder daheim war, erwarteten mich wenig später Blumen und eine liebe Karte mit den Worten: Danke, Frau Seyfried, Sie haben uns wieder Mut gegeben.
Heute am 2.11. bin ich wieder in genau derselben Ferienwohnung wie im Juni 2020. Die Erinnerungen kommen hoch, als wäre es gestern gewesen. Inzwischen habe ich Dutzende weitere Eltern begleitet, beraten und ihnen MUT zugesprochen – aus Villingen-Schwenningen, aus Deutschland und von vielen anderen Orten der Welt.
Ich wünsche mir, dass Eltern sich niemals die Schuld geben, wenn Kinder beim Lernen etwas mehr Unterstützung benötigen.
So können Lerntherapeuten unterstützen
Lerntherapeuten können soviel Positives bewegen, für die Familien da sein, ihnen zuhören und vor allem, Lesefreude wecken und Matheliebe entwickeln. Vergangenes können wir nicht ändern, egal, wer was und wie hätte anders machen können. Wichtig ist, es nach vorne zu schauen und die richtigen Schritte aufzuzeigen, ohne irgendwem die Schuld zu geben.
Ich muss zugeben, es weinen öfter Eltern am Telefon, aber mehrere Minuten Schweigen waren für mich neu und ungewohnt und ich bin dankbar, dass diese Mutter sich mir anvertraut hat und Hilfe gesucht hat. Mit Emotionen umgehen, ist immer auch ein Thema für Lerntherapeuten, gerade in Beratungsgesprächen, deren Verlauf nicht exakt geplant werden kann. Umso schöner ist es, als Lerntherapeut in einem Netzwerk und in Supervisionsgruppen zusammenzukommen.
Liebe Eltern, vernetzt euch und stärkt euch gegenseitig. Eure Kinder sind wertvoll und niemand ist schuld, wenn es beim Lernen mal nicht so rund läuft. Hier geht’s zum Beratungsgespräch.
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Ja, ich freue mich drauf